Produkt Holz 2022
Alles eine Frage der Haltung
Im anstrengenden und stressigen Alltag wollen wir wohl alle nicht auch noch auf unsere Körperhaltung achten müssen. Warum wir es dennoch tun sollten und wie uns das gelingt, zeigt dieser Artikel. Ein Grundsatz vorneweg: immer dynamisch bleiben.
«Du sitzt ja da wie ein Nussgipfel, setz dich mal gerade hin!» Es gibt wohl kaum jemanden, der diesen Satz genau so, oder in ähnlicher Form, nicht schon mal gehört hat. Möglicherweise ist es schon eine Weile her, denn auf diese Art zurechtgewiesen wird man in der Regel nur als Kind oder als Teenager. Den Absendern dieser Sätze – mit grosser Wahrscheinlichkeit den eigenen Eltern oder auch den Lehrpersonen – kann man zumindest zugutehalten, dass sie mit bester Absicht gehandelt haben. Denn ein gerader Rücken beim Sitzen ist ja bekanntlich die gesündeste Position. Aber stimmt dies auch wirklich?
Gerade ja, aber...
Zeit für einen schnellen Selbstversuch. Wie ist deine Körperposition, wenn du diese Zeilen liest? Sitzt du aufrecht mit geradem Rücken? Oder doch eher etwas gebeugt oder lässiger auf dem Stuhl? Vielleicht ist auch dein Kopf stark nach vorn geneigt. Also alles andere als eine physiologisch optimale Körperposition.
Wenn du dich jetzt aufrecht hinsetzt, den Blick nach vorn richtest und ein, zwei tiefe Atemzüge nimmst, wirst du feststellen, dass du freier atmen kannst und dich gleich etwas wacher fühlst. Das liegt daran, dass eine runde Körperhaltung eine grössere Belastung für die Wirbelsäule, aber auch für alle Muskeln im Rücken-, Schulter- und Nackenbereich darstellt. Dadurch wird auch das ganze Nerven- und Atemsystem beeinflusst, was eine direkte Auswirkung auf die Konzentrations- und die Aufnahmefähigkeit hat. Demnach ist eine aufrechte Körperposition im Sitzen wie auch im Stehen, tatsächlich sinnvoll und empfehlenswert.
Eine naheliegende Annahme wäre nun, dass man am besten permanent und in jeder Situation mit geradem Rücken stehen und sitzen sollte. Doch dies wäre wiederum zu viel des Guten, wie Bewegungspädagogin Deborah Minelli von der Ergolive GmbH in Kloten ZH erklärt: «Der Mensch ist nicht dafür gemacht, lange Zeit in derselben Position zu verharren. Ganz egal, wie diese aussieht.» Vielmehr sollte der Körper immer in Bewegung sein.
Deshalb empfiehlt Minelli häufige Positionswechsel, statt in der vermeintlich optimalen Position zu bleiben. Um zu verstehen, warum Bewegung so wichtig ist, müsse man zuerst einen Blick auf die Anatomie der menschlichen Wirbelsäule werfen.
Viel Wirbel um die Bandscheibe
Die Wirbelsäule stützt den gesamten Oberkörper des Menschen und besteht aus 33 Wirbeln, wobei 9 davon im Kreuz- und Steissbein miteinander verwachsen sind. Zwischen den einzelnen Wirbeln sorgen die Bandscheiben für Abstand und somit dafür, dass die Wirbelsäule überhaupt beweglich ist. Zudem fungieren sie mit ihrem beweglichen, gallertartigen und wasserreichen Kern als Stossdämpfer zwischen den Wirbelkörpern.
Damit die Bandscheiben die alltäglichen Belastungen stemmen können, ist es wichtig, dass sie mit ausreichend Flüssigkeit und Nährstoffen versorgt werden. Der Vorgang, bei dem Nährstoffe durch die Zellwand ein- und ausströmen, nennt sich Diffusion. Die Diffusion findet besonders stark beim Wechsel zwischen Be- und Entlastung statt. Man kann die Bandscheibe deshalb auch mit einem Schwamm vergleichen, der Flüssigkeit aufsaugt und unter Druck wieder abgibt. Wird der Schwamm aber konstant zusammengedrückt, kann er keine Flüssigkeit mehr aufnehmen. Und genauso ist es bei der Bandscheibe; stehen diese unter andauernder Belastung, kann keine Flüssigkeits- und Nährstoffaufnahme mehr erfolgen, und der Zellkern wird immer mehr zusammengedrückt. Dies führt zu einer schnelleren Alterung der Bandscheiben und zu deren Degeneration.
Kopf hoch
«Früher war der Mensch viel mehr in Bewegung und vor allem in sehr vielseitiger Bewegung», sagt Minelli. «In unserer modernen Welt gibt es leider viele Situationen, in denen der Mensch gerne mal zu ungünstigen, statischen Körperpositionen neigt.» Langes Sitzen am Bürotisch, im Zug oder Flugzeug kann eine grosse Belastung für die Muskulatur, die Gelenke sowie die Bänder und Sehnen in Rücken, Schultern und Nacken bedeuten. Auch die Nutzung des Smartphones erfolgt häufig mit stark nach vorn geneigtem Kopf. Dabei kann eine bis zu fünfmal höhere Belastung auf die Halswirbelsäule einwirken als bei einer geraden Nackenposition. Alle, die nicht im Büro, sondern in der Werkstatt arbeiten und in der Freizeit selten das Smartphone in der Hand haben, werden nun vielleicht denken, dass sie das nicht betrifft. Doch auch bei der Arbeit an der Hobelbank oder bei Überkopfarbeiten auf der Baustelle verharrt der Kopf oftmals lange in einer ungünstigen Position. Weiter können auch wiederholt gleiche Bewegungen, wie sie beispielsweise beim Beschicken einer Maschine oder beim Abstapeln der Werkstücke nach der Bearbeitung gemacht werden, ein Risiko für eine Überbelastung darstellen.
Solche Belastungen sind jedoch schwierig zu beurteilen, wie Alois Blum, Sicherheitsingenieur bei der Suva, sagt. «Anders als beim Heben und Tragen von Lasten, wo das Risiko meist offensichtlich und auch für Laien eher einfach abzuschätzen ist, erfordert die Beurteilung von Zwangshaltungen und repetitiven Tätigkeiten eine gewisse Expertise.» Denn der Zusammenhang zwischen der arbeitsbedingten Belastung und auftretenden Beschwerden sei nicht immer offensichtlich.
Unfall oder Berufskrankheit
Ein Unfall ist per rechtlicher Definition eine plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper. Beschwerden und Erkrankungen, die ausschliesslich durch Zwangshaltungen oder repetitive Bewegungsmuster bei der Arbeit resultieren, können hingegen je nach Fall als Berufskrankheit eingestuft werden. «Das häufigste Beschwerdenbild sind Rückenbeschwerden», sagt Blum. Gefolgt von Schmerzen in den Gelenken der Knie, Hüften, Schultern und Fingern sowie entzündlichen oder degenerativen Beschwerden der Sehnen. Die Krankheitsbilder treten oft schleichend und erst lange Zeit nach der schädigenden Einwirkung auf. «Zudem müssen Schmerzen, die bei der Arbeit auftreten, nicht zwingend von dieser verursacht werden», sagt Blum. Die Ursache könne auch bei früheren Tätigkeiten, in der Freizeit oder auch in einer genetischen Prädisposition liegen.
Gefährdungsanalyse und Prävention
Auch wenn der Auslöser für eine Erkrankung nicht immer am Arbeitsplatz zu finden ist, ist es durchaus sinnvoll, dort präventive Massnahmen zu ergreifen. Hierfür sollten die Arbeitsplätze nach Möglichkeit nach ergonomischen Kriterien gestaltet werden. Höhenverstellbare Arbeitstische, genügend Bewegungsfreiraum, der Einsatz von Hilfsmitteln für den Lastentransport sowie die Montage und angepasste Bewegungsabläufe bei sich wiederholenden Handgriffen können die Arbeitnehmenden entlasten. Weiter kann etwa eine Arbeitsplatzrotation der Überbelastung durch repetitive Tätigkeiten vorbeugen. «Präventive Massnahmen lassen sich auch gut nach dem S-T-O-P-Prinzip ableiten», sagt Blum. Das Prinzip (siehe Box) könne insbesondere helfen, die Prioritäten richtig zu setzen. Als Tool zur Gefährdungsanalyse kann der Arbeitsplatz-Check der Suva dienen. So lassen sich damit ein Arbeitsplatz oder eine Tätigkeit auf das Risiko einer Zwangshaltung, repetitiver Bewegungsabläufe und körperlicher Anstrengungen überprüfen.
Fit und sportlich, aber...
Je stabiler ein Möbelsockel, desto höher darf auch die Belastung sein, die auf ihn einwirkt. Beim Menschen ist es genauso, oder zumindest fast. Denn es gibt klare Richtwerte, wie viel Gewicht Männer und Frauen in den verschiedenen Altersstufen maximal heben und tragen sollten.
Doch auch ohne dass diese Richtwerte überschritten werden, kann ein Arbeits- alltag ganz schön anstrengend sein für den Körper. Wenn dieser fit und gesund ist, verringert sich das Risiko für Beschwerden.
Deborah Minelli referiert seit einigen Jahren in einem Modul der angehenden Schreinermeister über eine ergonomische Arbeits- platzumgebung. Sie erlebt die Menschen in der Schreinerbranche als sehr fit und sportlich. «Natürlich bietet der Schreinerberuf je nach Einsatzort schon viel Bewegung, aber auch in der Freizeit steht Sport bei vielen Schreinern hoch im Kurs», sagt Minelli. Ein Körper könne allerdings auch sportlich und austrainiert aussehen, aber dennoch in einer Dysbalance sein. Die trainierte Brust oder der Sixpack könnten zu einer gebeugten Körperhaltung führen, wenn die muskulären Gegenspieler am Rücken nicht auch trainiert würden.
Balance halten
Für eine gesunde Körperhaltung sind aber nicht nur die grossen Muskelgruppen entscheidend. Auch die sogenannte Tiefenmuskulatur, die nahe an der Wirbelsäule liegt, spielt eine wichtige Rolle. Diese stabilisiert und stützt den Rumpf und hilft beim Gleichgewicht. Da diese Muskelgruppen nur bei einer geraden Haltung arbeiten, können sie sich über die Jahre zurückbilden, wenn der Körper andauernd in einer gebeugten Position verharrt. Weil eine schwache Tiefenmuskulatur die Wirbelsäule nicht mehr ausreichend stützt, nimmt dadurch auch die Belastung auf die Bandscheiben zu. «Mit einem Balanceboard lässt sich die Tiefenmuskulatur aber gut trainieren. Wenige Minuten Training pro Tag helfen, diese Muskeln wieder zu stärken», wie Minelli erklärt.
Signale des Körpers wahrnehmen
Generell können regelmässige Ausgleichsübungen helfen, die Muskeln und Gelenke zu entlasten. «Bei vielen Menschen neigt die vordere Muskelkette aufgrund von vorn-
übergebeugten Tätigkeiten zur Verkürzung», sagt Minelli. So sollte man gelegentlich eine Gegenbewegung oder Dehnung machen. Aber auch bei gerader Körperhaltung empfiehlt sich spätestens nach 45 Minuten eine kurze Bewegungspause. «Unser Körper weiss in der Regel sehr gut, was er gerade braucht. Wir müssen nur wieder lernen, auf ihn zu hören», sagt Minelli.
Pause an, Smartphone aus
Auch der stärkste Körper braucht von Zeit zu Zeit eine Pause. Diese gilt es sinnvoll zu nutzen. Wer bei der Arbeit viel steht, sollte sich in der Znünipause hinsetzen, um die Gelenke und Muskeln in den Beinen zu entlasten. Bei einer Tätigkeit im Büro empfiehlt es sich, die Pause für etwas Bewegung zu nutzen. «Auch ein Powernap in der Mittagspause tut unserem Körper sehr gut, da die Wirbelsäule im Liegen entlastet wird», sagt Minelli. Allerdings, und da müssen sich wohl alle etwas an der Nase nehmen, könnten unser Körper und unser Gehirn besser durchatmen, wenn das Smartphone in den Pausen in der Tasche bliebe.
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